Erzählungen von Vroni Beetschen

An Weihnachten ist alles möglich

Eine Weihnachtsgeschichte von Vroni Beetschen-Russenberger

im Steiner Anzeiger vom 14.12.2013

Es ist ein Ros' entsprungen aus einer Wurzel zart» — Die Melodie hängt schwerelos im grossen Warenhaus. Aus den Lautsprechern schwingen sich die erbaulichen Töne in die Gänge, in alle Abteilungen. Sie drängen sich zwischen die Gestelle in die hinterste Ecke. Sie vermögen wie goldene Engel, funkelnde Sterne die Kunden zu überzeugen, zu bewegen, hier und jetzt das Kleingeld — oder gar das Grosse? — loszuwerden. Wer wünscht sich nicht eine heile, vielleicht sogar heilige Welt? Draussen wird es kaum Tag, die Nässe und die Kälte treiben die Menschen nach innen. Keiner fragt danach, was man verloren hat, was man sucht oder warum man einfach dasteht, um den Menschen zuzusehen. Niemand beachtet den kleinen Buben in der Spielzeugwarenabteilung. Er muss etwa acht Jahre alt sein. Seine schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen, kniet er vor einem Gestell mit Legoschachteln. Gebannt betrachtet er das Bild auf einer solchen. Seine Hände sind in steter Bewegung. Im Kreise herum, wieder nach oben, nach unten, wo sie zitternd vibrieren, als müsste er eine schwere Last tragen. Erst als ihn ein etwa gleichaltriger Knabe unsanft anstösst, mit den Worten «Du bist im Wege», fallen seine Arme schlaff herunter. Beinahe unverständlich murmelt der Kniende: «Alle Kisten sind eingeladen worden, mit Münzen, Goldbarren, Edelsteinen, die Segel wurden aufgezogen. Und ja, du hast mich wirklich gestört.» Der andere schüttelt verständnislos den Kopf «Spinnst wohl ein bisschen. Du hockst am Boden in einem Laden und versperrst den Weg! Oder bist heute noch nicht aufgewacht? Edelsteine gibt's im Traum.» — «Habe eine Reise gemacht», will sich der Angesprochene rechtfertigen, der sich nun erhebt und sein Gegenüber, wie als Entschuldigung, stupst: «Ich heisse Lucio — und du?» — «Stefan!» — «Weisst du, meine Mutter kann mir zu Weihnachten keine so grossen Geschenke machen, und so gehe ich in die grossen Läden, sehe mir all die Spielwaren an und mache daraus Geschichten. Das ist super toll, und warm ist es auch. Hast du denn viele Legosteine?» Im ersten Moment weiss Stefan nicht, was er sagen will. «Mutter schenkt mir, was ich mir wünsche. Aber das Piratenschiff, den Trax, der dort drüben steht, den Heli habe ich schon.» Plötzlich wird Stefan ungeduldig: «Uff, Mutter wartet sicher auf mich. Sie geht immer am Mittwoch in die Stadt — kommst du wieder einmal in den Laden?» Lucio zieht die Schultern hoch: «Vielleicht, ich wohne in der Stadt, schon möglich!» Stefan eilt in den vorderen Teil des Warenhauses, wo ihn seine Mutter bereits erwartet. «Hast du etwas Schönes gesehen?», will sie von ihm wissen. «Kann sein», kommt seine eher abweisende Antwort. «Ja dann!» Zusammen besuchen Mutter und Sohn eine Cafeteria und trinken eine herrlich duftende Schokolade. Drängelnde, mit vielen Paketen beladene Besucher versuchen ebenfalls einen leeren Tisch zu ergattern. An Stefan gleiten sie vorüber. Benebelt hört und sieht er sie nicht. Dafür steigen Bilder auf: eine Welt voller Märchengestalten, Piraten, Schiffe, voll beladen mit Edelsteinen, Drachen, Feen, alle friedlich und gemeinsam unter dem Dach des Warenhauses vereint. Er würde wieder dorthin gehen, das wusste er. Nichts konnte ihn davon abbringen. Er erschrickt beinahe, als sich Mutter erhebt und ihn an der Hand nach draussen in die Kälte zieht. «Hast du an Weihnachten gedacht, du warst so still?» Stefan nickt leicht: «Ja, ja, an Weihnachten!» Die beiden Buben werden Freunde. Fasziniert von der Fantasie, mit der Lucio seine Geschichten erzählt, macht Stefan Bekanntschaft mit einer unbekannten Welt. Kein Wunder also, dass er jeweils zu spät am Treffpunkt erscheint. Ärgerlich geworden, will seine Mutter wissen, warum das so ist. «Einfach so», meint er abweisend. Sie seufzt in sich hinein. Kinderträume! Da würde sie nie Zugang haben, und wahrscheinlich war das gut so. Doch eines Tages wird sie buchstäblich mit dem Geheimnis ihres Sohnes konfrontiert. Gerade ist sie dabei, ein Kuchenblech mit Weihnachtsguetsli aus dem Ofen zu nehmen, da hört sie im obersten Stock ein furchtbares Gepolter, begleitet von einem durchdringlichen Schrei. Eilends nimmt sie zwei Stufen auf einmal, um nach oben zu gelangen. Stefan liegt am Boden, ebenso ein umgekippter Stuhl und eine Menge Rollen verschiedenster Weihnachtspapiere. «Au, mein Fuss!», stöhnt er, und schon rollen die ersten Tränen über sein Gesicht. «Jetzt ist alles, alles futsch!» Seine Mutter untersucht sorgfältig den Fuss, versucht ihn zu bewegen und kommt zum Schluss, dass dieser sehr wahrscheinlich verstaucht ist. Auf dem Bett liegend, erhält Stefan, Essigwickel um den 'Fuss gebunden. Die Mutter streicht mit der Hand sanft über Stefans Haar. «So, und nun erzählst du mir, warum du klammheimlich im Kasten nach Weihnachtspapier suchst. Ich hätte es dir doch geben können!» «Eben nicht», schluchzt Stefan, und wieder kugeln heisse Tränen über seine Wangen. «Es ist ein Geheimnis. Ich wollte, wollte ...» Wie in einem Puzzle, Stück für Stück erfährt Stefans Mutter von der Freundschaft ihres Sohnes. Die Schachtel mit dem Piratenschiff, die mit dem Helikopter und noch zwei weitere wollte er einpacken und nächsten Mittwoch Lucio bringen. Er könnte sich diese ja wieder wünschen. Der Sturz hatte alles zunichtegemacht. Lange Zeit schaute die Mutter ihren Sohn an: «Ich hätte da eine Idee. Wie wäre es, wenn ich zum Treff gehen würde? Lucio muss doch wissen, dass dein Fuss verstaucht ist. Nebenbei könnte ich ihn fragen, ob er er mit seiner Mutter zu uns ans Weihnachtsfest kommen könnte.» Stefan reibt sich die tränennassen Augen. «Und die Schachteln, die bringst du ihm!» «O nein! Neue lasse ich mir im Warenhaus von der Verkäuferin in schönstes Weihnachtspapier einpacken. Allesamt.» Stefans Augen werden gross. «Mami, das ist mega, du auch!» Seine Mutter zwinkert mit den Augen. «Also dann und fertig mit Heulen, so kann dein Fuss niemals heilen. Ja?» — «Ja», doppelt Stefan nach. «Glaubst du auch an Märchen, Mutter?» Sie nickt leicht. «Kann sein. In der Weihnachtszeit ist alles möglich! Es gab vor vielen, vielen Jahren eine Rose, die blühte gerade zur Weihnachtszeit, und es gibt manchmal kleine Jungs, die wollen mit dem Kopf durch die Wand, obwohl keine da ist. Verstehst du?» Über Stefans Gesicht huscht ein Lächeln. Ich verstehe — und weisst du was, jetzt weiss ich ganz genau, was ich mir zu Weihnachten wünsche, aber das schreib ich später auf, es ist nämlich ein Geheimnis.»